Und wenn es im 2. Weltkrieg Facebook gegeben hätte? Geschichtsunterricht mal anders!

Heute möchte ich Euch ein ganz besonderes Schulprojekt aus Frankreich vorstellen: es heisst « Germain Ducret » und zielt darauf, Geschicht erlebbar zu machen – und dies mit den technologischen Mitteln unserer heutigen Zeit.

Vor über einem Jahr bin ich auf diesen Zeitungsartikel der Tageszeitung „Le Dauphiné Annecy“ gestossen:

Die Mission der Gymnasiasten: in die Haut einer fiktiven Figur zu schlüpfen und auf Facebook den Alltag in Kriegszeiten dieser Figur zu erzählen. Eine wie ich finde geniale und inspirierende Idee, die im Kern auch der Mission dieses Blogs entspringt – einen Bogen zu schlagen aus der Vergangenheit zur heutigen Realität junger Menschen. Aus meiner Sicht verdient dieses Projekt es, kopiert und wiederholt zu werden…und bietet dafür auch ganz vielfältige Möglichkeiten.

Aber nun mal ganz konkret zum Projekt: Ein fiktiver Charakter, Germain Ducret, dessen Profil komplett von den Schülern erfunden wird, berichtet auf Facebook über sein alltägliches Leben im Annecy während des Zweiten Weltkriegs. Fast täglich postet er Schwarzweißfotos, welche tatsächlich zwischen 1936 und 1945 in der Region Hoch-Savoyen aufgenommen wurden, um mit seiner Familie und Freunden zu kommunizieren.

Ich wollte mehr über dieses „Learning by doing“ zu erfahren habe ich mich mit dem Professor Jean-Marc Villermet in Verbindung gesetzt, der sich freundlicherweise die Zeit zu einem Gespräch mit mir genommen hat: Die Idee des Projekts « Germain Ducret » entsprang seiner Erkenntnis, dass vielen Schülern heute ein Bezug zu ihrem Wohnort und dessen Geschichte fehlt (zB. aufgrund häufiger Wohnortwechsel). Die Professoren Villermet und Gestin wollten daher die Fächer Geschichte, Geographie, Ethik und politische Bildung in einem ganz neuen Projekt verbinden, welches dem Schüler eine aktive Rolle zuschreibt, ihn in den Mittelpunkt der Überlegungen stellt.

Ziel des Projektes ist nicht die detailgetreue Nacherzählung der Geschichte des Krieges von 1939-1945. Dieser Stoff ist bereits vorab in Geschichte behandelt worden. Es geht dabei eher um die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Phänomenen, welche die Bürger Frankreichs « zwischen den beiden Weltkriegen » beeinflußt haben, zB.  « die Bewegung der Mitläufer », der « Widerstand », die « Befreiung » – und dies anhand des Beispiels eines ganz gewöhnlichen Bürgers, der zu dieser Zeit in einer französischen Provinzstadt lebt. Die Schüler sehen sich dadurch mit grundlegenden Fragen konfrontiert, die durchaus aktuell sind: Wie kann man im Krieg Widerstand gegen Angreifer leisten? Oder nehme ich die Position des handlungsunfähigen Zuschauers ein? Was hätte ich in dieser Situation getan?

Anhand dieser Mission erspüren die Gymnasiasten den Lebensweg der Menschen im 2. Weltkrieg,  sie ordnen reale Geschehnisse ihrer Heimat in den geschichtlichen Kontext ein: Besatzung, Ideologien, Faschismus und Nationalsozialismus, das politische Vichy-Regimes, welches den Werten der französischen Republik widerspricht. Die Erfindung des Lebenslaufes von Germain Ducret wirft ethische Fragen auf, zB. im Hinblick auf Razzien und « Deportation ». Während des Krieges wird in diesem Zusammenhang hauptsächlich von « Verschwinden » gesprochen, wenn von Gewalt gegen eine bestimmte Bevölkerungsgruppe die Rede ist. Konnte Germain Ducret davon tatsächlich nichts gewusst haben?

Die Erschaffung des Germain Ducret – in konkreten Schritten:

  • Eine solche Initiative bedarf einer ernsthaften und genauen Vorbereitung – zeitliche Ressourcen, eine Projektleitung, eine genaue Definition der Rahmenbedingungen, der Spielregeln (z. B. Bedingungen für die Verwendung von Facebook-Daten), aber auch die Sichtung von Informationsquellen sind erforderlich.
  • Zunächst ein Mal stellten die Lehrer fest, dass nur noch äusserst wenige Erinnerungen an die Zeit des Zweiten Weltkriegs in den Familien vorhanden sind. Die Schüler wurden gebeten, Fotos oder andere Gegenstände / Erbstücke aus der Zeit mitzubringen, aber es war schnell klar, dass externe Ressourcen in das Projekt einbezogen werden mussten. Das Stadtarchiv wurde hier zu einem unverzichtbaren Partner des Gymnasiums und erwies sich als wahre Fundgrube, insbesondere in Bezug auf Bildmaterial. Die gesichteten Informationen über historischen Ereignissen in der Region, Fotos, Zeitungsartikel usw. dienten als Ressourcen der Inspiration und der Vervollständigung der Arbeit der Schüler. 
  • Die Anzahl der teilnehmenden Schüler wurde bewusst auf 15 begrenzt, um eine ausreichende Begleitung eines jeden Projektmitgliedes sicherstellen zu können.
  • Die 15 Schüler haben zunächst ein Brainstorming durchgeführt, um den fiktiven Charakter zu definieren: Geschlecht, Alter, Geburtsort, Beruf, Name. Einzige Vorgabe: Es muss sich um eine frei erfundene Person handeln, um jeglichen möglichen Schaden für eine Einzelperson, einen Verein oder eine Familie zu vermeiden. Ein lizenzfreies Foto (mit Zustimmung der Familie der Person) wurde ausgewählt, um der Figur ein Gesicht zu geben, nun wurde das FB-Konto eröffnet.
  • Ab da arbeiteten die Schüler eng mit der Bibliothek zusammen, um sich ein möglichst detailliertes Bild über diese Zeit in Hoch-Savoyen zu machen. Jedes Mitglied der Arbeitsgruppe war für eine bestimmte Thematik zuständig und hatte dieses jeweilige Kapitel des Krieges in Form einer Powerpoint zu präsentieren – immer aus dem Blickwinkel des Germain Ducret. Für diese Vorbereitung hatten die Schüler 15 Tage Zeit. Schnell zeigten sich erste Schwierigkeiten bei den Schülern: Die Wiedergabe der Texte und Quellen sowie der Sachverhalte war ziemlich korrekt, viel schwieriger war es allerdings für die Schüler, sich mit dem Charakter zu identifizieren. Eine intensive Nachbereitung der Lehrer war hilfreich, um die Schüler selbst agieren zu lassen und sich mit Germain Ducret zu identifizieren. Soweit vorhanden, konnten die Gymnasiasten Erinnerungsstücke aus dieser Zeit aus ihren Familien, Musik, Fotos, Gegenstände mitbringen und in ihre Präsentationen einfliessen lassen.
  • Wie im allgemeinen Umgang mit sozialen Netzwerken auch sollten auch in diesem Rahmen die Kommentare und Veröffentlichungen auf der Facebook-Seite verwaltet und ggfs. gemassregelt werden.
  • Das Projekt war zeitlich auf drei Monate begrenzt und endet mit dem Tod des Germain Ducret. Professor Villermet hat mir ein kleines Geheimnis anvertraut: die Person, welche „Germain Ducret“ ihr Gesicht geliehen hat, ist in Wirklichkeit derselben Todesursache erlegen wie Germain Ducret.

Es ergibt sich für die Schule ein sehr positives Fazit nach diesem Pilotprojekt:

In Zahlen: 850 Follower der FB-Seite von Germain Ducret, > 20.000 Hits und Kommentare zu den verschiedenen Artikeln. Leser vervollstaendigkeiten Germain Ducrets Aktivitäten mit Informationen oder Anekdoten zu den entsprechenden Orten, an denen die Figur sich aufhielt.

Seitens der Schüler war das Feedback ebenfalls sehr positiv: zum Einen machte es den Schülern Spass, direkte Reaktion via FB auf Ihr Schaffen zu erhalten, sich auszutauschen. Zum anderen entdeckten sie auf diese Weise ihre Heimat durch die geschichtliche Brille neu, der Zusammenhang zum Weltkrieg wurde greifbarer als dies durch die Geschichtsbücher der Fall ist.

Meines Erachtens entwickelt dieses Projekt seine Kraft durch die Identifizierung der Gymnasiasten mit einer Figur, die sie selbst erschaffen. Durch die Projektion fühlen sie sich intensiv in den Zeitraum und dessen Geschehnisse in ihrer Heimatstadt ein und setzen sich so mit den verschiedensten Themen auseinander. Es wird eine Brücke geschlagen zwischen der Vergangenheit und gesellschaftlichen Fragen, die auch und gerade wieder heute höchste Aktualität haben.

Leider habe ich einen Germain Ducret bisher nur in französischer Sprache gefunden – für diejenigen, die sich die Seite anschauen wollen!

Ich freue mich auf Eure Beiträge, Fragen, Ideen und bin für eine Kooperation für ein solches Projekt mit Schulen jederzeit offen!

 

 

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